Mirjam Walter
Raum und Zeit sind Konstanten unserer Alltagswahrnehmung. An der Stabilität und Konsistenz ihrer Verbindung misst sich die soziale Lesbarkeit und Zurechenbarkeit unserer Handlungen. Das Skizzenbuch eröffnet für mich einen anderen Raum. Sein Gegenüber ist nicht die Zeit. Stattdessen lässt das Hinzufügen einer nicht-physikalischen Dimension (Gefühle, Erinnerung, Erfahrung, Unbewusstes) das Skizzenbuch zu einem biegsamen, fluiden Raum werden. Dieser Raum kann sich in alle Richtungen ausbreiten, da in ihm die Hierarchisierung abgeschlossener Körper aufgegeben wurde und er sich selbst in einem ständigen Prozess befindet.
Beim Betrachten eines älteren Skizzenbuches stellt sich für mich aufgrund dessen auch immer die Frage, inwiefern ich eingreifen will in damals Gezeichnetes. Reiße ich heraus, was ich jetzt besser weiß und kann, beziehe ich es in den aktuellen Prozess ein oder akzeptiere ich es als Zeugnis des Historischen? Meistens überwiegt letztere Reaktion. Ich begreife das Skizzenbuch als einen Ort in dem jede Seite gleichwertig ist, unabhängig von der Qualität der Zeichnung/Malerei/Collage/Notiz die auf ihr zu sehen ist. Die Quantität der Arbeiten im Skizzenbuch lässt Qualität sekundär werden. Jedoch ist Quantität auch nicht Primärziel, sondern Mittel zur Dimensionsbildung, wenn ich mir Dimensionsbildung als Methode der Verknüpfung vorstelle. Die Vielzahl der Arbeiten gibt eine Vielzahl von möglichen Koordinaten an, von denen aus Orientierung bzw. Desorientierung im zeitlichen und räumlichen Kontext in dem man sich befindet, möglich ist.
Skizzenbücher sind intime Orte deren Inhalte weder fertig noch verpackt sind. Ein Skizzenbuch hat ein Anfang und ein Ende. In meinen Skizzenbüchern spielt das aber keine Rolle, genauso wenig wie die Reihenfolge der Arbeiten von Bedeutung ist. Das Ende ist kein Abschluss und die nächste Seite kein Fortschritt. Meine Skizzenbücher sind geschlossene Räume, die offen sein wollen. Es gibt keine Hierarchie, keine Reihenfolge, – abgesehen von der Formatvorgabe, die sich meist zufällig ergibt. Zeichnungen, die als Reaktion auf die vorangegangene Seite entstehen, beispielsweise weil sich die flüssige Farbe durchgedrückt hat, können trotzdem für sich stehen und in andere Richtungen weisen. Es geht nicht um Narration im Sinne einer Chronik, vielmehr als Schlüssel, als Aufmachen eines Raumes, einer Beziehung.
Als Aktivist*in des Skizzenbuches öffne ich einen Raum, indem ich ihn gestalte. Als Leser*in beziehungsweise Betrachter*in des Skizzenbuches durch ein in verschiedene Richtungen mögliches Entlanghangeln an gegebenen Koordinaten. Greifen und Verzahnen ist notwendig, um weiter zu kommen – wohin auch immer.
Das Skizzenbuch ist immer da, weil es in einen Rucksack passt. Das Skizzenbuch ist ein*e Begleiter*in. Es wird abgenutzt und fragil. Durch das Bewegen knicken und beschmutzen die Seiten. Kopien, Collagen, Zitate sind legitime Inhalte eines Skizzenbuches, die dort gemeinsam zu einer Nicht-Identität der Autor*innenschaft verschmelzen, in welcher Differenzen weder negiert noch benannt werden. Ich betrachte das Skizzenbuch als einen „Safe Space“ in dem das herkömmliche Wertesystem nicht greift und die Frage nach (Re-)Präsentation außen vor bleibt. Dies wird auch dadurch ermöglicht, dass das Skizzenbuch als Lebensraum nicht warenförmig ist. Die Frage des Wertes bleibt wenigstens zu Lebzeiten der Künstler*innen in den meisten Fällen ungestellt.
Spätestens mit der Publikation hat sich der private Charakter des Skizzenbuchs endgültig als demonstrativ erwiesen, als ein Widerspruch in sich. Es ist ein privater Äußerungsraum, der sich nicht ohne Gegenüber denken lässt.
Der Vorteil des Skizzenbuchs ist, dass dort kein abgeschlossenes Selbst durchgehalten werden muss. Selbstüberschreibung/Übermalung sind Versuch einer Selbstüberschreitung anhand deren Grenzen die Nicht-Identität verloren geht, an deren Grenzen die Bewegung des eigenen Körpers im Verhältnis zu Anderen steht und erkannt wird.