Alex Hojenski
Ungehalten lässt auf Empörung schließen, auf Wut, die sich ungebremst verteilt. Doch kann man sich auch ungehalten fallen lassen. Ausgelassen, offen sein.
Ungehalten versammelt Ölmalereien auf Papier und Leinwand sowie handgeflochtene Korbobjekte, die innerhalb der letzten zwei Jahre entstanden sind. Ausgehend von der zentralen Rolle der Skizze in Mirjams Arbeit, gesellen sich verschiedene Werkgruppen zusammen und schließen an die Papierarbeiten an. Frei im Raum hängend sind Vorder- und Rückseite der teils schwer mit Ölfarbe beladenen Blätter sichtbar. Eine Präsentation, die das Prinzip einer klassischen Rahmung umkehrt. Mit der stärkenden Plexiglasplatte im Rücken bleiben die Papiere offen, statt von Glas und konturierendem Rahmen ringsherum abgeschlossen – sicher verwahrt, gehalten – zu sein.
Die Rückseite erzählt vom Anfang, die Vorderseite vom Abschluss der vielen sich überlagernden Maldurchgänge, durch die sich Motive entwickelt haben. Die sickernden Ränder und alternativen Formationen auf der Rückseite dokumentieren die Eigendynamik der Farben und Pigmente, die oft nicht davor halt machen, darunter liegende Farbschichten zu durchtränken und zu verschlingen, sich ihren Weg durchs Material zu bahnen.
Diese kleinformatigen Papierarbeiten sind Teil kontinuierlicher Atelierarbeit. Sie sind Empfänger:innen der übrig gebliebenen Farben, mit denen sie wieder und wieder übermalt und ergänzt wurden. Den Entstehungsprozess größerer Formate begleitend, zeigen sich nicht selten Verwandtschaften zwischen Farbkompositionen oder Zeichen auf den Leinwänden und Skizzenblättern.
Hier gilt es auch eine Einteilung zu lockern. Zieht man seine Kreise zwischen den gezeigten Malereien und sieht genauer hin, trifft man in so manchem kleinen Blatt auf komplexe Konstellationen, die weit mehr als eine schnelle Skizze sind.
Die Skizze verfügt über den Freifahrschein ohne eine Behauptung auszukommen – von der Behauptung, eine Skizze zu sein, einmal abgesehen. Ganz klassisch ist sie Fingerübung und Ideensammlung. Als Vorstufe, die vermeintlich Unausgereiftes, aber wohl eher Nicht-Vordefiniertes zeigt, ist sie faszinierend magisch und gleichzeitig unprätentiös. In der Beweglichkeit einer nicht vordefinierten Erscheinung liegt die Möglichkeit der Transformation. Ein auf Werden basierendes Dasein löst sich ab von einem fest definierten Sein, in dem Pflichten und Beteiligungen bereits mit der Geburt zugeteilt zu sein scheinen.
Bis eine Arbeit abgeschlossen ist, bestehen noch Fragen zwischen ihr und Mirjam. Manchmal stellt sich nach genügend gemeinsam verbrachter Zeit heraus, dass diese Frage die Aufgabe dieser Malerei ist und sie sie gemeinsam stellen.
In meinem Kopf kreist ein Songtext, der ein Axolotl als ein voller Potenz steckendes Wesen thematisiert. Als etwas, das sich in der Evolution weder in die eine, noch in die andere Richtung entschieden hat, sich in seiner nicht-Spezifizierung eine Zwischenform beibehält, die die Möglichkeiten anderer Lebensform in sich vereint. Das Axolotl ist eine meist in Mexiko vorkommende Schwanzlurch-Art, die natürlicherweise als sogenannte Dauerlarve auftritt. Das bedeutet, dass es nicht wie die meisten Amphibien eine Metamorphose durchläuft, seine Kiemen umentwickelt und zum Landlebewesen wird. Es lebt sein gesamtes Leben unter Wasser und verändert sein Äußerliches nicht. Axolotl verfügen dafür über die Fähigkeit, Gliedmaßen und Organe, sogar Teile ihres Herzens und Gehirns wiederherzustellen.
Totipotent, fügt der Songtext hinzu: In der Differenzierung noch nicht festgelegt.
Es scheint, sein größtes Potential ist die Verweigerung.
Auch in Mirjam Walters Arbeiten ist bei weitem nicht alles bereit zu kooperieren. Es gibt immer wieder Brüche, Bereiche in den Bildern, die sich schwer fassen lassen oder die gegeneinander zu arbeiten scheinen. Ausschluss und Abgrenzung. „Außen vor bleiben“ in einer Gruppe, ebenso wie „neben sich stehen“, ganz singulär. Sterben als Fassung und Form verlieren. Andere und sich selbst verlieren. Und doch die Möglichkeit für Wunder. Momente voller Fruchtbarkeit und gegenseitiger Ergänzung.
Mirjam führt eine Diskussion über die Form. Beziehungsweise wird sie in ihrer Diskussion durch Formen geführt. Was kann in einer Form gebündelt werden? Was will? Was ist eine bewegliche Form in einem Axierenden Medium? Eine, die sich nach und mit den Betrachter:innen bewegt?
Ist die Produktion von undefinierten, sich zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit verhandelnden Szenen der Ausweg, der Repräsentation umgeht?
Die Krux an besagter Repräsentation ist, dass sie häufig, um Kritik und Zweifel anzuzeigen, das wiederholt, was sie abschaffen möchte.
Auch den Ausstellungstitel bezieht sich auf die Verhandlung zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, die, wie ich behaupten würde, keine rein malereispezifische ist.
Ungehalten läge zwischen zwei Polen. Dem der Abstraktion, der für Mirjam ohne Gehalt auskommt und dem der Figuration, als etwas, das einen Gegenstand festhält.
Für mich ist zentral, dass Mirjams Bildsprache mit belebten Formen arbeitet, die beides sein können: abstrakt und Agurativ. Was allem innewohnt, ist eine belebte und häufig emotional kommunizierende Aktivität.
In Unfassbar werden reihen sich Blätter, Pollen, Poren, Früchte, Knospen, Schnäbel und Finger um ein weißes Konstrukt aus Perlenkette, Wirbelsäule, Fischgräten und Ästen.
Es ist spannend, Elemente zu „erkennen“, ihnen etwas bekanntes zuzuweisen, mich dem Bild in der Übersetzung von Details anzunähern. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, das festliche Gewirr vor diesen ausgebeult, wabernden Flächen entziffern zu wollen oder zu müssen, um seinem Gehalt zu begegnen. Wohl eher im Gegenteil.
Mirjams Arbeiten sind eng mit dem Leben verbunden. Manche Malereien zeigen Menschen oder Menschliches, erzählen von Erlebtem oder Geträumtem. Der Körper als weit dehnbare Form öffnet und schließt sich, wird verwundet, geliebt und aufgelöst.
Mit einer dünnen, blauen Schleife gebündelt, formt sich ein Körper durch seine Abgrenzung. Sein Gehalt – ob fleischliches Volumen oder wallende Luft – bleibt schleierhaft.
Die Beobachtung, dass sich Menschen ihrem Wesen und Verhalten nach in Löffel-, Gabel- und Messer-Menschen einteilen lassen (inklusive Zwischenstufen und Mischformen) brachte Mirjam zu einer Reihe von Zeichnungen und geflochtenen Objekten.
Die Objekte Ohne Namen (nicht ohne Titel) haben keinen Kopf. Sie sind keine konkrete Personifizierung. Sie sind nach oben offen.
Viele Arbeiten haben etwas Köstliches. Je länger ich mit ihnen Zeit verbringe, desto deutlicher sehe ich Rausch. Berauschte Flächen und Strudel, Auswüchse und Poren, die sich begegnen, sich umzingeln, umschwärmen, ertasten, spüren. Erst köstlich, dann abstoßend. Dann beides.
Überlagernd, infiltrierend, übernimmt die eine Form die andere. Die Verhandlung des Selbst über die Abgrenzung zur Umgebung, auch darin liegt das Körperliche. In einer Grenze, einer Fassung, die beweglich und dehnbar sein kann, durchlässig und atmungsaktiv, aber dennoch einen Zusammenschluss darstellt. Körper stecken stets voller anderer Körper, wir sind Hüllen und selbst von Hüllen umgeben. Dies gilt für lebenswichtige Mikroorganismen in unseren Körpern, ebenso für Menschen, Umgebungen und Orte, die uns prägen und uns begleiten. Wir verteilen uns, sind fragmentiert, offenporig.
Die offenen Stellen sind sensibel. Es sind Schnittstellen, nicht zwangsläufig schwach, aber hoch reaktiv und aufmerksam.